"Anmerkung 134"
Premiere: März. 2008 / Tanzhaus nrw, Düsseldorf
Dauer: ca. 60 Min.
Konzept: Ludica.(Nardi&Tanaka)
Choreografie: Morgan Nardi
Visuelle Kunst: Naoko Tanaka
Performer: Annelise Soglio, Alessio Castellacci, Francesco Pedone
Sound: Alex Goretzki
Dramaturgy: Christoph Klimke
Textbearbeitung: Heide Küsters
Büffet/Organisation: Martin Brüggemann
Koproduziert durch das tanzhaus nrw Düsseldorf
Gefördert durch die Kunststiftung NRW, den Ministerpräsidenten des Landes NRW, das Kulturamt der Stadt Düsseldorf, den Fonds Darstellende Künste Bonn, die Stiftung Van Meeteren, die Kunst- und Kulturstiftung der Stadtsparkasse Düsseldorf und Italienische Kulturinstitut Köln
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Inspiriert durch den Roman "Petrolio" des italienischen Schriftstellers und Filmregisseurs Pier Paolo Pasolini schafft Ludica. eine facettenreiche Inszenierung zwischen Licht - und Schattenspiel, Textfragmenten, Soundkompositionen, filmischen Zitaten, abstrakten Projektionen und choreografischen Elementen. Der Titel bezieht sich auf das durch den gewaltsamen Tod Pasolinis bei der "Anmerkung 133" abgebrochene Werk des grossen italienischen Intellektuellen. Ludica spielt mit dem Prinzip der Diskontinuität und baut in assoziativer Weise Bilder und Räume, die sich dem gedanklichen Kosmos von Pasolini mit einer eigenen künstlerischen Handschrift nähern.
Tourdaten
22. Jan. 2011; Schaubühne, Leipzig
15. Mai 2009; Fabrik ELBA, Wuppertal (Festival "tanz nrw 09")
14. Februar 2009; Dock 11, Berlin (Festival“tanz.rotiert“)
01. und 02. April 2008; Theater in der Brotfabrik, Bonn
27., 28. und 29. März 2008; tanzhaus nrw, Düsseldorf
25. November 2007; "Open Studio" im tanzhaus nrw, Düsseldorf
Presse
Pier Paolo Pasolini war Bürger und Revolutionär, Poet und kommunistischer Provokateur, Katholik und Ketzer. Bei diesem italienischen Intellektuellen (1922 – 1975), der gegen einen Linksfaschismus polemisierte, brachen sich die Widersprüche. Sein Tod wurde nie aufgeklärt: Ein verurteilter Stricher widerrief sein Geständnis. Der Verdacht, dass es sich um einen Auftragsmord des italienischen Geheimdienstes handelte, wurde nie ausgeräumt.
Eine solche Figur zwischen Kultur und Subkultur mit ihrer Sehnsucht nach einer ursprünglichen, erdverwurzelten Gesellschaft und ihrer homosexuellen Lust „beim Betrachten der Kniekehlen fußballspielender Jungen“ hat natürlich einen wie Johann Kresnik inspiriert. 1986 schrieb er Pasolini in Heidelberg ein „Testament des Körpers“ auf den Leib und zelebrierte obszöne Schwarze Messen. Das italienisch-japanische Künstlerkollektiv Ludica geht da sehr viel feinfühliger vor.
Der Choreograf und Tänzer Morgan Nardi und die Raum- und Videokünstlerin Naoko Tanaka begnügen sich mit einem respektvollen Blick auf Leben und Werk des Filmemachers und Schriftstellers.
Sie haben Splitter gesammelt, ästhetisiert und zu einem Bilderkosmos aus betörender visueller Kunst, Tanz, Text und Sound zusammengefügt. Dem Zuschauer, an den Rand gedrängt wie die Bevölkerung italienischer Vorstädte, der Pasolini seine sozialkritischen Schriften widmete, weist das Künstlerduo eine Statistenrolle zu.
Ludicas Performance „Anmerkung 134“ bezieht sich auf Kapitel 133 des unvollendeten Romans „Petrolio“ („Erdöl“). Sie ist keine Ergänzung, eher Nachhall einer geräuschvollen Künstlerexistenz. Im Spiel mit Licht und Schatten tanzen Annelise Soglio, Francesco Pedone und Alessio Castellacci den Pasolini, heben die Fäuste und werden als schwarze Silhouetten auf Mauerwerk zur anti-kapitalistischen Drohkulisse. In einer animierten Projektion vervielfältigen sie sich zur Masse Mensch.
Der Schmuddelhomosexuelle singt mit aus der Hose ragendem schwarzem Penis einen alten Italo-Schlager. Der Intellektuelle erläutert in Textfragmenten seine gesellschaftspolitischen Positionen. Die Kreatur in ihm, die die natürliche Lebensform fordert, krabbelt auf allen vieren und schlingt Nahrung in sich hinein – klar eine Anspielung auf den Film „Die 120 Tage von Sodom“.
Manche Szenen ziehen sich, vieles bleibt im Vagen, buchstäblich im Dunkeln. Das ist gut so, Pasolini ist ein Mythos geblieben.
BETTINA TROUWBORST, BalletTanz Feb.09
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Bittersüßer Kosmos
Ludica aus Düsseldorf bei tanz.rotiert im Dock 11, Berlin
Das Stück „Anmerkung 134“ von dem Düsseldorfer Künstlerkollektiv Ludica lädt zur sinnlichen Erfahrung einer brutal beendeten Lebensgeschichte ein: der von Pier Paolo Pasolini. Der italienische Autor und Filmemacher wurde 1975 Opfer eines Mordes, sein unvollendet gebliebenes Werk „Petrolio“ endet mit der „Anmerkung 133“. Der Titel von Ludicas Kreation lässt also an Weiterdichtung denken. Doch bevor ein neues Kapitel aufgeschlagen wird, herrscht Cocktailparty-Ambiente im Trainingssaal vom Dock 11. Eine Spiegeltafel mit allerlei Köstlichkeiten überrascht die Publikumsgäste, die sich plaudernd im Saal einfinden. Schon hier beginnt das Spiel mit Pasolinis Weltanschauung. Was hätte er wohl als erklärter Feind des Konsumismus zu diesem Einstieg gesagt? Unerwartet startet die Performance. Unsicher verteilen sich die Gäste um die Saalmitte und werden Publikum und Bühnenbild zugleich. Ein Scheinwerfer wirft ihre Schatten an die Rückwand und fängt jede Bewegung ein. Eine fragmentarische Reise durch Pasolinis Biografie beginnt. Tanzsequenzen, abstrakte Installation sowie italienischer Gesang schaffen einen Abend, in dem es ganz offen um Liebe, Sex, Emotionen, Trauer und Homosexualität geht. Sinnlich die Szenen der Tänzer Annelise Soglio, Alessio Castellacci und Francesco Pedone, in denen sie unbekleidet als Tableaux vivants mit der Projektion eines Frescos der Videokünstlerin Naoko Tanaka verschmelzen. Ludica taucht tief ein in Pasolinis gedanklichen Kosmos. Um seiner Figur gerecht zu werden, die so vieles war - Kommunist, Nationalheiliger, Medienkritiker, Homosexueller - wird ein ebenso vielschichtiger Teppich aus Textfragmenten und Filmzitaten vorgelegt. Wenn sich auch nicht immer alles erschließt, so ist doch der Abend allemal eine poetische Hommage.
Annett Jaensch, Feb.2009 / Tanzpresse
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Tanzpremiere: Wenn der Tote über den Styx gleitet
Die Compagnie „Ludica“ erinnert im Tanzhaus an Pier Paolo Pasolini.
Der Kapitalismus raubt dem Menschen seine Natürlichkeit. Eine Quasi-Klonung im Tanzhaus.
Hier hätte er sich nicht wohl gefühlt. Man betritt das Studio 6 des Tanzhauses und landet auf einer Stehparty mit Buffet und Geplauder. Pier Paolo Pasolini (1922-1975), Filmemacher und Autor, Kommunist und Volksheiliger, Homosexueller und Mordopfer, umstritten und gefeiert, war ein erklärter Feind des Konsumismus.
Der Choreograf Morgan Nardi, die Videokünstlerin Naoko Tanaka und ihre Compagnie „Ludica“ erinnern mit ihrem neuen Stück „Anmerkung134“ an den Künstler.
Die Performance startet also als Party, die Zuschauer sind Teil des Spiels. Auf einmal trampeln die drei Akteure Francesco Pedone, Anneliese Soglio und Alessio Castelacci auf den Boden. Die zwanglose Atmosphäre bricht. Dann gibt’s, als Karaoke, einen italienischen Schlager im Sound der 60er Jahre.
Das Stück verzichtet nicht nur auf eine klassische Präsentation, sondern auch auf eine gängige Dramaturgie. Nardi und Tanaka haben eine szenische Collage angerichtet, die teils Spuren aus Pasolinis Leben aufnimmt, teils kryptisch bleibt. Videopräsentationen und szenische Elemente wechseln sich ab oder verschmelzen zu eigenen Bildwelten.
Formal gibt es einige wunderbare Lösungen, doch inhaltlich ist man ohne Vorkenntnisse überfordert. Zwei Akteure krabbeln über den Boden, nehmen nur mit dem Mund Nahrung auf, als wären sie Hunde. Dies sicher ein Zitat aus „Die 120 Tage von Sodom“, Pasolinis umstrittenstem Film.
Der konservative Aspekt seiner Kapitalismuskritik – die Menschen werden ihrer Natürlichkeit beraubt – wird dialogisch benannt und sinnlich erfahrbar gemacht, wenn die drei Akteure im Livevideobild endlos gedoppelt werden.
Einer der Darsteller entblößt seinen Oberkörper, zappelt sich in Rage, stößt Grunzlaute aus. Dazwischen hört man die Worte „Kill him“. Wird hier Pasolinis Mörder ins Bild gerückt, der ihn 1975 in Ostia erschlug? Und am Ende schwimmt der Schatten eines Tänzers auf einer Wasserprojektion, als glitte Pasolini über den Styx. Vielleicht.
„Anmerkung 134“, so hieße auch ein ungeschriebenes Kapitel aus Pasolinis unvollendetem Roman „Petrolio“. Das suggeriert, „Ludica“ habe Pasolinis Werk noch etwas hinzuzufügen – ein zu hoher Anspruch. Zu einer Beschäftigung mit Pasolini regt die Performance aber durchaus an.
Von Klaus M. Schmidt, Westdeutsche Zeitung Düsseldorf, 29.03.2008
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Sie tanzen den Pasolini
Pier Paolo Pasolini - ein bekennender Katholik, der gegen die Sexualmoral der Kirche polemisierte. Ein Kommunist, der wachsenden Linksfaschismus anprangerte. Homosexuell, konsumkritisch, medienskeptisch. Radikal in seinen Positionen und in seiner Kunst, mit der er Skandale beschwor, immer wieder vor Gericht zitiert wurde.
Nur für seinen geplanten Roman „Petrolio“ konnte er nicht mehr belangt werden. 1975 wurde Pasolini ermordet, der Text blieb Fragment. „Anmerkungen“ statt „Kapitel“ hat er seine Textpassagen benannt, 133 davon hat er verfasst. Jetzt existiert eine mehr.
Das Düsseldorfer Künstlerduo Ludica - bestehend aus Morgan Nardi (Choreograf) und Naoko Tanaka (Medienkünstlerin) - hat eine „Anmerkung 134“ kreiert. Was nach Weiterdichtung klingt, ist in Wahrheit eine sehr respektvolle Hommage. Nicht der Provokateur, sondern der Poet Pasolini hat Ludica interessiert. Doch so sehr haben die Eskapaden die Rezeption des Dichters und Filmregisseurs beherrscht, dass er nun, in dieser sehr zarten Annäherung kaum mehr auszumachen ist. Die drei Tänzer dieses Abends schlagen auf den Boden ein, kratzen mit den Fingernägeln über die Oberfläche - Pasolini, der Rebell, der jede glatte Oberflächlichkeit zerstören, aufreißen wollte? Später krabbeln Mann und Frau auf allen vieren, bekommen Essen hingeworfen, das sie wie Tiere verschlingen - vielleicht eine Film-Reminiszenz an „Die 120 Tage von Sodom“? Und irgendwann lehnen die drei Performer des Abends nackt an einer Wand, posieren wie für eine mythologisch-stilisierte Aktfotografie. Pasolini, der Liebhaber schlichter Kreatürlichkeit?
Nardi und Tanaka arrangieren Splitter aus seinem Leben, seiner Kunst, hochästhetisch und zugleich so kalkuliert unperfekt, dass die Bilder niemals kitschig sein können. Doch man bleibt verunsichert, begreift irgendwann, dass es nur die eigenen Projektionen sind, in denen man Pasolini zu entdecken glaubt. Für traumgleiche Verrätselungen ist die Formation Ludica Expertin. Sie durchdenken jedes ihrer Bilder gründlich. So sind ihre Stücke niemals platt, nur eben streckenweise unlesbar - aber irgendwie passt das ja auch wieder zur literarischen Monstrosität „Petrolio“.
NICOLE STRECKER, 29.03.08