Milliarden Jahre Widerhall
- Eine Expedition von Fukushima in das Unmögliche -
Ein Mann, dem ich auf der Reise begegnet bin, hat einmal gesagt, dass der Ort,
an dem radioaktive Strahlung verbreitet wurde, ein philosophischer Ort werden müsste.
Als die Erde geboren wurde, schwebten radioaktive Materialien wie Uran ganz natürlich herum.
Sie wurden über einen langen Zeitraum ruhiger und ließen sich im Boden nieder, sodass höhere Organismen
wie wir Menschen auf der Erde möglich wurde, unseren Lebensraum zu gestalten. Menschen in früheren Zeiten
wussten damit umzugehen, denn weder Aborigines noch native Americans näherten sich dem Ort,
an dem sich Uran tief in Boden befand - solche Orte waren ein Heiligtum.
Diese versiegelte Geschichte haben wir in den letzten 100 Jahren ausgegraben und
einen ursprünglichen Zustand vor 4,5 Milliarden Jahren wiederhergestellt - ein Zustand der Erde ohne uns.
(von Naoko Tanaka´s Reise-Tagebuch)
Milliarden Jahre Widerhall ist eine performative Ausstellung, die Elementare und wechselseitige Beziehungen von Menschen zu ihrem Terrain in deren Ambivalenz und Entfremdung neu denkt.
Tanakas Auseinandersetzung beginnt mit ihren Reisen in die kontaminierte Sperrzone von Fukushima. Ein Ort, wo radioaktive Strahlung unsichtbare Prozesse in einer ungeheuren Dimension in Gang setzt.
Performance, Film, Zeichnung und Installation – eine Reihe von eigenständigen Arbeiten kreieren zusammen einen Resonanzraum, in dem der Widerhall der menschlichen Einflüsse auf die Erde eine sinnliche Präsenz bekommen.
Die minimalen Kompositionen Tanakas Performance entblößen unsere Wahrnehmung und weiten ihre Schärfe aus. Wie hineingezogen in eine sinnliche Expedition erreicht das Publikum über die leisen fließenden Strömungen und Meereswellen der schwebenden Folie das Fernvergangene und das Tiefuntergrabene. Ein quer durch den Raum gespannter Faden knirscht und brummt zwischen Tanakas Fingern – anfänglich zartes Quietschen wird zum Geschrei, das in inneren Höhlen nachhallt.
In einem Stop-Motion-Film verwandelt Tanaka ihre realen Begegnungen mit Menschen, Tieren sowie anderen Elementen der Natur in Fukushima in magische Erzählungen. Von Hand gezeichnet, wegradiert und abfotografiert – durch analoges Verfahren gewinnen die Bleistiftzeichnungen im fortlaufenden Erscheinen und Verschwinden ein Eigenleben. Ein sich wandelndes Weltbild tritt hervor, begründet auf anderen Vorstellungen von Weltschöpfung, Naturgewalten und Menschenbildern, welche grundverschieden sind als die der abendländischen Aufklärung.
Künstlerische Leitung, Installation, Video, Performance, Sound, Text: Naoko Tanaka
Assistenz: Isabel Garcia Espino
Dramaturgische Mitarbeit: Dandan Liu
Licht und Technik: Felix Grimm
Produktionsleitung: Paula Häfele
Eine Produktion von Naoko Tanaka in Koproduktion mit SOPHIENSÆLE und PACT Zollverein. Gefördert durch die Kunststiftung NRW.
Recherche und Vorarbeitsprozess gefördert durch Fonds Darstellende Künste und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland.
Dank an: Yoshie Shibahara für die spezielle Technik von Plastikfolie, Theaterhaus G7 Mannheim, Kunsthaus Mitte in Oberhausen.
Dauer: Performance ca.35 min. Nach der Performance wird der Raum als Ausstellung zugänglich
Bei der Ticketkontrolle wird das Publikum das kleine Reisetagebuch in die Hand gegeben. Es wird zusammen in den Raum gelassen und finden seine Sitzplätze. Nach der Performance, die circa 35 Minuten dauert, wird der Raum wie eine Ausstellung für weitere variablen Zeit (ca.45 - 60min) geöffnet. Das Publikum kann sich frei im Raum bewegen und sich die ausgestellten Kunstwerke anschauen.
Dimension : ca. 12m(B) x 18m(T), ohne Tribüne
Premiere : 01.04.2023 SOPHIENSÆLE, Berlin







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Photo © Henryk Weiffenbach, Anna Widercrantz, Thomas Lehmen

Panorama-Zeichnung, Graphite on paper, 33 x 780 cm
Hier werden Begrifflichkeiten dargelegt, die bei Tanakas derzeitiger Kunstpraxis eine zentrale Rolle spielen:
„Blei-Stop-Motion“ Film
ist ein von Tanaka neu entwickeltes Verfahren. Die mit Bleistift gezeichneten Bilder werden aufgenommen und filmtechnisch überlagert, modifiziert und in Bewegung gesetzt. Man sieht wie die Spuren des Bleistifts trotz Ausradieren ihre tieferen Schichten bewahren und ihr Eigenleben fortführen. In Milliarden Jahre Widerhall kreiert Tanaka mit diesem Verfahren eine Fantasiewelt, die sich auf andere Vorstellungen von Weltschöpfung, Naturgewalten und Menschenbilder begründen, welche grundverschieden sind von der entzauberten Welt der abendländischen Aufklärung.
„HausWesen“
ist eine Serie (Skulptur/Installation), die auf Häusern basiert, in denen Tanaka früher gewohnt hat. Das Haus ist ein fundamentaler Lebensraum für uns, der laut Gaston Bachelard eine „Integrationsmacht“ für unsere Gedanken, Erinnerungen und Träume ausübt. Ein Haus ist ein Wesen, das die Intimität unserer Innenräume hütet und uns täglich mit der Außenwelt aus neuen Blickwinkeln in Verbindung setzt. Tanaka „knetet“ ihre Erinnerungen und Einbildungen als ob sie aus Ton wäre und gibt dem Wesen eine Form. Das daraus gewachsene Gemisch geht über ihre Person hinaus und steht für ein kollektives Gefühl der „Häuslichkeit“.
„Merkwürdige Zone des Vakuums“
ist ein Eigenbegriff von Tanaka, der einen Wahrnehmungszustand beschreibt, der von ihr in verschiedensten Ausformungen und Dispositionen immer wieder zum Ausdruck gebracht wird. Ursprung dieses Begriffs war eine Schlüsselerfahrung in ihren früheren Lebensjahren – als Kind fühlt sie sich in einigen Momenten mit der Umwelt in einer vollkommenen Resonanz. Sie schwingt mit der Umwelt schwerelos mit, und die Wahrnehmung ihres Selbst und die der Außenwelt verschmelzen in einer unmittelbaren Lebendigkeit. Die Sehnsucht nach dieser ambivalenten Sphäre, ein wichtiger Beweggrund ihres künstlerischen Schaffens, ist für sie wie ein „Heimweh ohne Ort“, weshalb Tanaka sie als „merkwürdige Zone des Vakuums“ bezeichnet.
Topophilia
ist ein Begriff der humanistischen Geographie, der die positive psychische Beziehung beschreibt, welche ein Individuum zu einem bestimmten Ort hat. Tanaka versteht Topophilia als imaginatives Begehren nach Ortsverbundenheit, dessen Gegenstand jedoch unbesetzt und unerfüllbar ist. Als in Deutschland lebende Künstlerin japanischer Diaspora ist Tanaka über ein entfremdetes Heimatgefühl mit Fukushima verbunden. Sie verspürt eine intensive Verbindung mit diesem Ort, weil der Gegenstand der Heimats- und Natursehnsucht gerade da für immer unterbunden und unberührbar gemacht wird.